Wie gelassen wir mit Reizen umgehen, ist dabei höchst individuell, und hängt nach Gerald Hüther von der individuellen Gehirnentwicklung innerhalb unserer ersten sechs Lebensjahre ab. Die Zeit im Mutterleib ist dabei gehirnphysiologisch nicht minder relevant, denn Ungeborene erleben die Welt, noch bevor sie geboren werden, über ihre Mütter. Neurobiologisch wurde nachgewiesen, dass das über die neuroendokrine Stressachse ausgeschüttete Cortisol von der Plazenta der Mutter nicht herausgefiltert wird und die Gehirnentwicklung des Kindes beeinflusst – so zum Beispiel die Datenspeicherung über den Hypocampus. Bei einem erhöhtem Cortisolspiegel der Mutter während der Schwangerschaft ist also das Gehirn eines Kindes bereits im Voraus angelegt auf eine Welt voller Stress und Angst, obwohl es selbst, streng genommen, die Welt noch gar nicht erlebt hat. Hirnorganisch bildet sich ein vorgeprägtes Erwartungsschema heraus, in das alle persönlichen Erfahrungen in der Folge eingereiht werden. Fazit: je höher die Cortisolwerte der Mutter, desto stressanfälliger die Babys und desto weniger psychische Widerstandskraft (Resilienz) im Erwachsenenalter.
Davon abgesehen, können wir nur eine begrenzte Anzahl von Reizen gleichzeitig wahrnehmen und verarbeiten. Unserem Gehirn scheint eine Art Filter eingebaut, wodurch wir uns in komplexen Situationen auf das Wesentliche konzentrieren und richtige Entscheidungen treffen können. Es handelt sich um eine unbewusst ablaufende Stressreaktion des Körpers, auch „Anpassungsreaktion“ genannt. In Stress- und Drucksituationen steigen Blutdruck und Puls, die Atmung wird schneller, der Muskeltonus erhöht sich. Die Anpassung an „Gefahrenmomente“ erfolgt folgendermaßen: Das Hormon Adrenalin wird ausgeschüttet und sorgt dafür, dass Gehirn und Muskeln mit Energie versorgt werden; der Körper stellt sich auf „Kampf-“ oder „Fluchtverhalten“ ein („fight or flight“); dann läuft der Organismus auf Hochtouren. Ist die „Gefahr“ gebannt, ebben im Normalfall die entsprechenden körperlichen Reaktionen auch wieder ab.
Das Ausmaß positiver Reiz- und Druckverarbeitung – ohne die Entstehung chronischer Stressmuster (ständige Alarmbereitschaft) – hängt, wie gesagt, von unserer aus der Kindheit stammenden Resilienz ab. Dem sozialen Umfeld und vertrauten Bezugspersonen kommt darin eine wesentliche Bedeutung zu. Dies haben die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy Werner und ihr Team von der University of California bereits in den 1950er-Jahren experimentell bewiesen. In ihrer Kauai-Studie sind nämlich vierzig Jahre lang knapp 700 Jungen und Mädchen der gleichnamigen hawaiianischen Insel beobachtet worden.
Wenngleich der Begriff „Stress“ relativ jung ist, existieren Stresssituationen und Stressoren seit jeher. 1935 vom Wiener Arzt Hans Selye geschaffen, ist uns dieser Begriff heute bestens vertraut und oft inflationär in Verwendung. Sogar Volksschulkinder sprechen von Stress. Er ist zwar ein natürlicher Aktivator für unseren Körper, der zwischen Aktivierung und Regeneration (Actio/Reactio) hin und her pendelt – entscheidend ist, auf welche Weise wir mit Stressoren umgehen.
Stressoren können sehr vielfältig sein. Heutzutage unterscheidet man zwischen:
Leistungsstressoren (Zeitdruck, Prüfungsangst, Unter- oder Überforderung)
sozialen Stressoren (Mobbing, familiäre Konflikte, Verlustängste)
unvorhersehbaren Ereignissen (plötzliche Erkrankung, Unfälle, Tod eines nahen Menschen)
physikalischen Stressoren (Lärm, Umweltgifte, toxisches Sitzen, Stoffwechselstress bedingt durch Diäten, zu wenig Vitalstoffe, Entzündungen u.ä.).
In Stresssituationen wird eine ganze Reihe von biochemischen Botenstoffen freigesetzt. Zu den bekanntesten zählen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Diese Stresshormone gehören zu den so genannten Katecholaminen und wirken bei kurzzeitigem Stress. Bei langzeitigen Belastungssituationen hingegen wirken wiederum die Glukokortikoide, wie beispielsweise Cortisol, das über die Nierennebenrinde ausgeschüttet wird. Dieser Vorgang ist hochkomplex, denn über das CRH (Corticotropin-Releasing Hormon) wird ACTH (Adrenocorticotropin) freigesetzt, das die Ausschüttung von Cortisol stimuliert.
Die Ausschüttung von Stresshormonen macht uns kurzfristig leistungsfähiger im Sinne des Fight-or-Flight-Prinzips. Wenn wir allerdings ständig in „unübersichtlichen Situationen“ leben und keinen Ausgleich finden, führt dies zu einer dauerhaften Belastung, die uns krank machen und Symptome wie Angst, Depressivität, innere Unruhe, Schlafstörungen, Leistungsverlust, Bluthochdruck, Übergewicht u.v.m. verursachen kann. Die hormonellen Reaktionen sind höchst individuell: Was bei einem Menschen permanente Hektik und Nervosität auslöst, bringt den anderen kein bisschen aus der Ruhe.
In einer global leistungsorientierten Gesellschaft, in der die internationale Konkurrenz den Mittelstand und seine Unternehmen zerreibt, wo alles am besten jetzt sofort und in bester Qualität abgeliefert werden soll, wo durch die elektronischen Medien die Informationswege immer kürzer werden bei gleichzeitig ständig wachsender Informationsmasse (Reizüberflutung), stoßen viele Menschen an ihre Grenzen. Jeder zweite Arbeitnehmer fühlt sich inzwischen beruflich überbelastet. Aus dem „Stressreport 2012“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Deutschland geht hervor, dass 52 Prozent der 18.000 befragten Erwerbstätigen starken Termin- und Leistungsdruck empfinden, 44 Prozent fühlen sich während ihrer Arbeit von Anrufen und E-Mails unter Druck gesetzt, jeder Dritte verzichtet auf Pausen, um mit dem geforderten Arbeitspensum zurechtzukommen.
Wenn aus der perfekten Welle ein Tsunami wird, steigen sowohl die Anfälligkeit als auch die Wahrscheinlichkeit für Fehlentscheidungen. Wir fühlen uns ständig wie auf der Flucht.
Nicht selten geht Überbelastung infolge hoher Identifikation und Selbstausbeutung einher mit emotionaler Erschöpfung, chronischem Stress und schließlich mit Burnout. Eine regelmäßige und kritische Überprüfung der eigenen Wertewelt ist gefragt, um nicht die Kontrolle zu verlieren, wenn Leistungsbereitschaft und Ehrgeiz das Ruder an sich reißen. Dies kann darin kulminieren, das Gefühl für den eigenen Körper und seine Bedürfnisse zu verlieren und nicht mehr zu spüren, was und ab wann es der eigenen Gesundheit schadet.
Auch grundsätzlich positive Reize wie Bewegung oder Sport können in der falschen Frequenz und Intensität mehr schaden als nützen. Übertraining ist sozusagen das Burnout des Sports.